Barbara Couvert: Vererbte Geschichte. Wie psychische Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden

Barbara Couvert nimmt die Leser*innen in ihrem Buch mit hinein in ihren Ansatz der Mehrgenerationenperspektive und der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Aus ihrer langjährigen beruflichen Erfahrung berichtet sie von Klient:innen, die von einer Geschichte bestimmt werden, die nicht ihre eigene ist, die mit Symptomen professionelle Hilfe aufsuchen, deren Ursprung sich nicht im eigenen Erleben erklären lässt. Bei der Spurensuche im erlebten Erbe der Vorfahren wird deutlich, dass die Autorin neben neurowissenschaftlichen Erkenntnissen mehr die Freud’sche Psychoanalyse nutzt, um ihren Ansatz zu entwickeln, als systemische Prämissen.

Das Buch ist strukturiert aufgebaut. Bei der Entstehung des transgenerationalen Traumas wird die Bedeutung der Intensität der durchlebten Emotionen beleuchtet sowie deren Transformation in hormonelle Prozesse, die dann wiederum im Körpergedächtnis gespeichert werden. Dies wird als Somatisierung (körperliche Manifestierung eines seelischen Schmerzes (S. 46)) erläutert und über die Grundlagen der Osteopathie, die ein strukturelles, emotionales und psychisches Gewebe-Gedächtnis unterscheidet, weiter ausgeführt.

Die physische Weitergabe der Traumata wird durch Erkenntnisse der Neurowissenschaften (Spiegel-Neuronen, Kommunikation, Gedächtnis) und der Epigenetik beschrieben. Der weitere Fokus auf Familiensysteme, Werte und Normen, Aufträge und Loyalitäten, Art und Weise der Kommunikation in der Familie sowie Identitätsbildung durch Namensgebung ist dabei nicht neu, aber in einer gelungenen Zusammenschau gefasst. Interessant ist die Auslegung des Savant-Syndroms (außergewöhnliches Erinnerungsvermögen oder spezielle Kenntnisse auf bestimmten Gebieten, z.B. der Mathematik, (S. 87)) auf ein transgenerationales Zahlengedächtnis durch Wiederholungen von markanten Jahreszahlen, welches sich nicht nur im Jahrestag-Syndrom, sondern auch in Stellvertreterkindern widerspiegelt.

Die oft so unverständliche Weitergabe von sexualisierter Gewalt, der Wechsel der Opfer auf die Täterseite wird ebenso beleuchtet wie der Einfluss eines schädlichen Umfelds. Den schmalen Grat des guten Umganges mit Traumatisierungen verdeutlichen die Wirkung von Familiengeheimnissen einerseits und auf der andere Seite Erfahrungen, die den Nachkommen so eindringlich und mit so viel Emotion weitergeben, dass sie ihnen wie eine eigene Erinnerung erscheinen, was als Postmemory bezeichnet wird (Verbindung der Nachfolge-Generation mit dem persönlich, kollektiven und kulturellen Trauma, das ihre Vorfahren erlebt haben (S.151 nach Hirsch)).

Alle Foki werden von der Autorin mit zahlreichen Beispielen aus ihrer Praxis untermauert und mithilfe von Genogrammen in der Mehrgenerationenperspektive nachvollziehbar dargestellt.

Beim Lesen all dieser faszinierenden, spannenden und erfolgreichen Freilegungen familiärer Übertragungen sowie dem Credo der Autorin: „Wenn solche Zusammenhänge nicht erkannt werden, führt dies zu Wiederholungen“ (S. 161) befällt mich als Leserin jedoch mehr und mehr ein Unbehagen. Denn die Ausführungen erwecken immer zwingender den Eindruck eines starren Ursache-Wirkungs-Prinzips, dem die Klient:innen ausgeliefert sind, findet die Berater:in/ Therapeut:in nicht den transgenerationalen Ursprung. Daneben wird in der Lektüre wenig angedeutet, wie sich damit (weiter)arbeiten lässt, wenn sich eine Ableitung konstruieren lässt.

Im letzten Kapitel „Heilung und Resilienz“ klingt dies in Ansätzen an: „Wenn ein Trauma oder wiederholt auftretender Stress die Expression bestimmter Gene beeinträchtigt, so hat es umgekehrt eine heilende Wirkung, wenn unser Kummer wahrgenommen wird, denn dies löst eine Art epigenetische Rückkopplung aus“ (S.174). Neben Bewusstheit werden die bekannten Resilienzfaktoren, sichere Bindungen, anregende Umgebungen, Selbstfürsorge, Achtsamkeit und bei Bedarf therapeutische Begleitungen genannt, die zu Musterunterbrechungen und Auflösungen eines transgenerationalen Erbes und zu einer familiären Resilienz führen, die ebenfalls transgenerational weitergegeben werden kann.

Als Systemikerin erschließt sich mir in meiner Arbeit mit den Klient:innen viel über den Mehrgenerationenblick, allerdings geprägt von Gunter Schmidt: Die Vergangenheit bestimmt niemals das Erleben der Gegenwart, sie ist eine Einladung. Die Gestaltung der Gegenwart bestimmt die Bedeutung der Vergangenheiten. Das Bild, welches über die Vergangenheit gewonnen wird, ist immer auch orientiert an der Gegenwart und dem Willen und Wunsch auf Zukunft. (Seminarmitschrieb).

Der Blick auf und das Verständnis für die Weitergabe von psychischen Erfahrungen an die nachfolgende Generation von Barabra Couvert sind mir, isoliert betrachtet, zu einengend, der Fokus zu sehr in der Vergangenheitsorientierung verhaftet. Als Inspiration und sinnstiftende Möglichkeiten können sie beim Suchprozess nach Einladungen aus dem Erbe für Klient:innen hilfreich werden. Diese werden dann in der Gegenwart bewertet und in den eigenen Zukunftsentwurf integriert werden müssen. Dazu fehlt mir bei Barbara Couvert das Manual.