Wie Liebe und Schmerz uns prägen und was wir daraus machen
„Wir werden nicht einfach in unsere Familien hineingeboren, sondern in die Geschichten unserer Familien, die uns stützen, nähren und manchmal zu Krüppeln machen. Und wenn wir sterben, werden die Geschichten unseres Lebens ein Teil der Bedeutungsgebung unserer Familie“. (Monica McGoldrick in „Wieder Heimkommen“)
Das Zitat von Monica McGoldrick, die als Begründerin der Mehrgenerationalen Therapie gesehen werden kann, beschreibt sehr gut die Intention, mit der Julia Samuel in ihrem Buch „Jede Familie hat eine Geschichte“ die Therapiegeschichten von acht Familien mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen beschreibt.
Ob Adoption, Patchworkfamilien, Geheimnisse und Tabus, Überleben des Holocaust, Suizid oder der Tod eines Kindes – Samuel zeigt, wie wichtig es ist, generationenübergreifend ins Gespräch und in den Austausch zu kommen. Die Geschichte der Familie, d.h. die unterschiedlichen Sichtweisen im Familiensystem auf die Lebensherausforderungen zu erfahren und die individuellen emotionalen Bewältigungs- oder Abwehrstrategien zu kennen, ist für Samuel der Schlüssel. Denn diese haben facettenreiche Auswirkungen auf alle – aber überwiegend auf die nachfolgenden – Generationen. Sich der Wucht der eigenen und der familiären Gefühle zu stellen, die Bereitschaft, als Familie immer wieder die Schwierigkeiten zu benennen, zu durchleben und zu verarbeiten, wird nach Samuel ein neues Familienmuster prägen, das die Resilienz der einzelnen Mitglieder stärkt. So können die familiären Herausforderungen in die eigene Biographie integriert und Verantwortung für das eigene Leben übernommen werden.
Samuel zeigt auf, wie hilfreich dabei der geschützte Rahmen der Therapie sein kann: der zeitlich begrenzte Raum, die durch die Therapeutin geschützte Atmosphäre und das professionelle Gegenüber, das zuhört, die Geschichten (aus)halten kann und zu neuen Perspektiven und Interpretation einlädt. Dies eröffnet den Klienten und Klientinnen die Möglichkeit einer tieferen Introspektion, um so destruktive Narrative zu entschlüsseln. Dabei bedarf es, so die Autorin, meist nur weniger Sitzungen, um festgefahrene Familienmuster und -dynamiken zu lösen und Veränderungsprozess anzustoßen.
Obwohl mich das Buch inspiriert hat, habe ich mich beim Lesen immer wieder gefragt, für wen ich es empfehlen kann. Als Sachbuch sind die Therapiegeschichten sehr lang und ausführlich. Der ACE Test im Anhang ist ohne Erklärungen aus meiner Sicht fragwürdig. Da wäre ein auf Resilienzfaktoren fokussierender Test angemessener. Die „Do You Know“-Skala über die Biographie der eigenen Eltern ist wiederum sehr empfehlenswert. In diesem Sinne hätte ich mir für ein Sachbuch noch mehr Vielfalt in den Themen und Fragen am Ende jeder Fallgeschichte gewünscht, die die Leser*innen auch ohne Therapeut oder Therapeutin anregen, mit ihren (Herkunfts-) Familien ins Gespräch zu kommen.
Als Fachbuch hatte es für mich eher den Demonstrationscharakter einer Fortbildung: In acht Fallvignetten lädt die Therapeutin ein, ihr bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Auch wenn Samuel viele Forschungen zitiert, ist nicht unbedingt viel Neues dabei. Interessant ist eher zu beobachten, wie Samuel mit viel Erfahrung, Feingefühl, der nötigen Intuition und in jeder Familienkonstellation anders alle Beteiligten immer wieder in eine förderliche Interaktion und Kommunikation bringt und so persönliche Weiterentwicklungen ermöglicht. Dies lässt sich in der Tat wohl nur in so ausführlichen Fallgeschichten beschreiben und transportieren.
Von daher ist das Buch für alle Einsteiger lesenswert, die sich im Feld des Mehrgenerationalen Settings bewegen wollen. Für diejenigen, die schon länger darin unterwegs sind, sind sicherlich auch inspirierenden Aspekte dabei, die in eigenen Therapiegeschichten neue Räume eröffnen.