Ingrid Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel

Kriegsenkelbiografien und Sach- wie Fachbücher zum Thema gibt es derzeit zahlreiche auf dem Markt. Das Thema berührt, fordert zur Auseinandersetzung mit der individuellen und der generationsübergreifenden Geschichte heraus. Das Buch von Ingrid Meyer-Legrand gehört dabei zu den wichtigen, da es neben der Beschreibung der erfahrenen leidvollen Biografien einlädt, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen, alternativen Erzählungen zu den dominanten Geschichten aufzuspüren und das Mosaik der Bewertungen zu erweitern.

Ingrid Meyer-Legrand schreibt ihr Buch aus drei unterschiedlichen Perspektiven:

  1. Die der Kriegsenkelin mit unterschiedlichsten Wander- und Fluchterfahrungen (25) in der Herkunft­sgeschichte, die mit großer Empathie die leidvollen Erfahrungen der Kriegsenkel würdigt.
  2. Die der Therapeutin mit langjähriger Erfahrung in der Begleitung biografischer Selbst­reflexions­prozesse, die in vielen Beispielen einfließen.
  3. Und die der Systemikerin, die das individualisierte Scheitern, die Zickzackbiografien (136) mit den Stop & Grow-Strategien (122) und nicht zuletzt die überfordernde Rastlosigkeit der Kriegsenkelgeneration in einen gesellschaftlichen Kontext (von den leidvollen Erfahrungen zweier Weltkriege bis hin zum Aufbruch in die Multioptionsgesellschaft des 21. Jahrhunderts) stellt; dies weitet den Blick für hilfreiche, sinngebende Erklärungen.

Für die Autorin ist „ein biografischer Verlauf nur im Schnittpunkt von individueller und gesell­schaftlicher Geschichte zu begreifen“ (137). Mit der von ihr entwickelten Methode „My life Storyboard“ wird entlang der individuellen Lebensstationen immer wieder dieser Schnittpunkt beleuchtet. Eigene Leit- und Weltbilder sowie Deutungs- und Interpretationsmuster können dabei im Kontext von Familiengeschichte, Sozialisationserfahrungen und den spezifischen Heraus­forderungen der eigenen Generation reflektiert und ressourcenorientiert neu bewertet werden. Immer wieder wird dabei der Fokus auf die Frage gelenkt, welche Fähigkeiten und Ressourcen die Kriegsenkelgeneration beim Aufbruch in die globalisierte Welt auf Grund ihrer ganz eigenen biografischen Erfahrungen mitbringt und wozu diese sie befähigen.

Im Nebeneinanderstellen von gegensätzlichen, ja, mitunter sich ausschließenden Positionen und Erfahrungen, im sowohl Leid als auch Ressource; in der Haltung des UND: „Ich habe ein schweres Erbe UND ich darf meinen Weg gehen“… liegt die in die Zukunft weisende Botschaft des Buches, die einen Weg aufzeigt, sich aus dem transgenerationalen Vermächtnis zweier Weltkriege zu lösen.

Sabine Salzmann